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Der Baum vor meinem Fenster

Auf meinem Meditationssessel sitzend, blicke ich ohne Intention zum Fenster hinaus. Mein Blick fällt auf den Baum vor meinem Haus. Um genau zu sein, blicke ich direkt in die Baumkrone. Die Blätter sind noch schön grün und bewegen sich leicht im Wind. Es ist  nicht, wie sich das vielleicht einige Leser vorstellen, dass ich an einem idyllischen oder gar abgeschiedenen Orte wohnen würde. In einem Haus umgeben von Bäumen und Feldern oder vielleicht in einem am Waldrand gelegenen Haus. Nein, ich wohne mitten im Dorf, an der Hauptstrasse, welche sehr befahren ist. Aber ich habe das grosse Glück, dass drei nebeneinander stehende Bäume direkt zwischen unserem Haus und der Strasse stehen. Der mittlere von ihnen ist der älteste und er erreicht fast die Gesamthöhe des Hauses. Man stelle sich vor, dass von der Strassenseite aus unser Haus vier Stockwerke zählt. Mein Meditationszimmer liegt im obersten Stock und ich habe die Ehre, direkt in die Baumkorne zu blicken. ''Ja und?', mag sich nun so manche und mancher fragen.....

In dem Augenblick, als ich so ungewollt und entspannt in diese Baumkrone schaute, stellte ich mir plötzlich vor, wie es wäre, wenn dieser Baum nicht vor meinem Haus stehen und ich nicht in diese Baumkrone blicken könnte. Mit diesem Gedanken machte sich in mir eine kalte Leere breit. Mir wurde bewusst, welch schützende Funktion dieser Baum hat. Seit Jahrzehnten schützt er unser Haus vor der Strasse und schenkt einen lebendigen Ausblick aus dem Fenster, über alle vier Stockwerke hinweg. Manchmal beherbergt er Vogelnester, ich kann das Zwitschern der Vögel hören und die wechselnden Jahreszeiten direkt beobachten. Der Baum schenkt mir immer wieder ein neues Bild vor meinem Fenster. 

Was mich aber im Moment des ungewollten Ausblicks am meisten berührte, war das Gefühl, welches mir die Bewusstwerdung dieser Schutzfunktion hinterliess. Der Baum übt seine Funktion in einer Selbstverständlichkeit aus, die nicht fragt, oder verlangt. Er tut einfach, wozu er da ist. Vielleicht würde er lieber anderswo stehen, als an der Hauptstrasse, wo täglich tausende Autos vorbeifahren. Aber er kann nicht wählen und einfach  wegziehen. Seine Wahl ist, zu kränkeln oder  seine Wurzeln tief in den Boden zu graben, um in Stärke in diesen Umständen zu leben. Ist das nicht auch bei uns Menschen so? Obwohl wir die Orte physisch wechseln können, können wir unseren Lebensrucksack mit all unseren guten und schlechten Erfahrungen nicht einfach abwerfen. 

Der Baum vor meinem Fenster hat die Stärke gewählt. Seit vielen Jahrzehnten schenkt er Tieren ein Zuhause und einen Rastplatz und schirmt unser Haus von der Strasse ab. Und so haben auch wir Menschen alle unsere Aufgabe im Leben und sind wichtig für unsere Mitmenschen bewusst und unbewusst. 

Auch wenn unsere Lebensumstände manchmal verkehrsreich, lärmig und abgasreich sind, sie dienen dazu, unsere Wurzeln zu stärken und gleichzeitig unsere Baumkrone wachsen zu lassen. Und so wächst unsere Kraft, Mitmenschen zu unterstützen und ihnen durch die achtsame Begegnung ein lauschiges Plätzchen zu bieten in Mitten von lärmigen Lebensumständen. So können auch sie wiederum ihre Wurzeln stärken und ihre Baumkrone wachsen lassen. Dies ist der ewige Kreislauf der Liebe. 

 

 

Susanna Finotello 

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